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Zu den deutschen Partikeln

 

kommentiert von Harald Weydt (Berlin 1969) mit Originalzitaten von Georg von der Gabelentz (1891/1969)

Zitate aus: Georg von der Gabelentz (1969), Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse. Leipzig 1891. 1969 unveränderter Neudruck der 2. Auflage. Tübingen: Narr. - Die hier verwendeten Zitate sind in der originalen Orthografie von 1891
und aus: Harald Weydt (1969), Abtönungspartikel. Die deutschen Modalwörter und ihre französischen Entsprechnungen. Bad Homburg usw: Gehlen - Das Manuskript wurde schon im Herbst 1966 abgeschlossen.


1.0  Ein Sammelband, der den Stand der Forschung zu den deutschen Füllwörter und Weichmacher darstellen will, sollte die bemerkenswerten Einsichten nicht übersehen, die bereits im 19. Jahrhundert Georg von der Gabelentz gewann und formulierte.

 

Als ich von E. Coseriu auf Gabelentz' Bemerkungen zu den deutschen Partikeln aufmerksam gemacht wurde, war das Manuskript zu meinem Buch über Abtönungspartikeln bereits abgeschlossen. Es ging mir dann so, wie es von der Gabelentz in der Vorrede zu der ersten Auflage seines Buches schrieb:

"Manches, was ich für mein Eigenstes halte, mag sich schon längst in den Werken Anderer vorfinden",
und auch die auf der gleichen Seite etwas weiter oben stehende Bemerkung fand ich bestätigt:
"In der Geschichte der Wissenschaft kommt es wohl vor, dass Einer so nebenher einen wichtigen, folgenreichen Gedanken ausspricht, den erst viel später ein Anderer ausbeutet. Und dieser Andere kann ebensogut selbständiger Entdecker, als von Jenem angeregt gewesen sein."

In der Tat hat von der Gabelentz wichtige Gedanken zu den deutschen Partikeln "so nebenher" ausgesprochen, fast beiläufìg und als Illustration für seine allgemein linguistischen Thesen. Zwei der Stellen, an denen er sich mit den Partikeln beschäftigt, sollen im folgenden noch einmal vorgestellt werden.

2.1 Zunächst ein Stück aus dem IV. Kapitel des Vierten Buches; es ist der Beginn eines Unterkapitels über "Die Subjectivität". Von der Gabelentz verweist dort auf die Funktion der Partikeln bei der intersubjektiven Einflußnahme und trennt den objektiven Sachverhalt, der im Satz zum Ausdruck gebracht wird, von der das Gemüt betreffenden, "gemüthlichgeselligen", Bedeutung. Weit davon entfernt, diese "Redensarten, die nicht zur Sache gehören" normativ abzulehnen, erkennt er ihnen eine positive soziale Funktion zu. Und schließlich lassen seine Äußerungen erkennen, daß er die Verwendung von Partikeln und ähnlichen sprachlichen Mitteln als ein Charakteristikum der Deutschen Sprache auffaßt. Das Deutsche habe nicht nur die Möglichkeit, derlei seelische Regungen zum Ausdruck zu bringen; dies geschehe im Deutschen auch mit auffallender Häufigkeit.

2.2 II. Die Subjectivität.

a. Psychologische Modalität.
Wenn ich den Befehl in verschiedene Formen kleide: "Gieb es mir! Du wirst es mir geben! Du giebst es mir!"
- wenn ich ihn fast zur Bitte abmildere: "Gieb es mir einmal! Gieb es mir nur! Gieb es mir doch!"
- wenn ich Wunsch und Bitte auf mannigfache Weise ausdrücke: "Möchtest Du es mir geben! Bitte, gieb es mir! Ach, gieb es mir! Donnez-le-moi, s'il vous plaît! Würdest du es mir wohl geben?"
- wenn ich den Fragesatz jetzt kahl und kalt stelle: "Warst du dort?"
- jetzt mit allerlei Hülfswörtern "denn, auch, nur, eigentlich" auspolstere;

wenn ich eine Rede halte und dort allerhand Füllwörter und Wörtchen einflicke, die mit dem Gegenstande der Rede nichts zu schaffen haben: "Sieh, das war dir nun wirklich eine missliche Sache; und, offen gestanden, lag eigentlich ein Theil der Schuld an mir",
- kurz, wenn ich dem, was ich sage, allerhand Redensarten beimenge, die nicht zur Sache gehören: so wird der Grund hiervon nicht unmittelbar in der Sache, im Gegenstande der Rede, sondern in einem seelischen Bedürfnisse meiner, des Redenden, zu suchen sein. Dieses Bedürfniss ist gemüthlich geselliger Art, im Gegensatz zu jenem, welches ich das sachlich geschäftliche nannte: der Redende will sich zum Hörenden in selischen Verkehr setzen, will, um auch dies Wort zu wiederholen, nicht nur etwas, sondern sich selbst aussprechen, nicht nur eine Thatsache, ein Urtheil, einen Wunsch oder Willen, sondern sein eigenes seelisches Befinden dabei dem Anderen mittheilen. Die Neigung, dies zu thun, nenne ich Mittheilsamkeit, und sie kann nur da gedeihen, wo sie Anklang findet, das heisst, wo sie national ist. Sie ist sehr verschieden, von der Gesprächigkeit und ihren schlimmeren Formen, der Geschwätzigkeit und Klatschsucht. Nur der Neugierige ist gesprächig und nährt die Gesprächigkeit des Anderen. Nur der Empfindsame ist mittheilsam und ermuthigt den Anderen zu entsprechenden Ergüssen seines Innersten. [...]

Wir haben es hier mit einer echt nationalen, zuweilen provinzialen Eigenheit der Sprache zu thun, mit einer der bezeichnendsten, die ich kenne. Nicht das allein ist wichtig, in welcher Stärke und in welcher Form sich die Mittheilung äussert, sondern auch, welches ihr Lieblingsgegenstand ist, ob der Nebengedanke des Redners, seine halbverhüllte Meinung, Zweifel, Vermuthung, Gewissheit, - oder seine Nebenempfindung, und ob diese mehr der Sache oder mehr dem Angeredeten gilt. Alles das mag nun wieder verschiedentlich ineinander greifen: aus Achtung spricht man in zögernd vermuthendem Tone, die Muthmassung ist mit Hoffnung oder Besorgniss vermählt u.s.w. Immer jedoch wird es der aufmerksame Beobachter entdecken können, wenn eine oder die andere Ríchtung erheblich bevorzugt ist.

Und weiter fragt es sich nicht nur, welcherlei seelische Regungen zum Ausdrucke gebracht werden können, sondern auch, wie oft oder selten sie in der Rede hervorbrechen. Man sieht: hier handelt es sich recht eigentlich um den nationalen Redestil, der dem Leben abgelauscht werden will, um eine Art Statistik. (Gabeletz, 1891, 1969: 472 f.)

3. Die zweite, noch wichtigere Stelle, die hier vorgestellt werden soll, stammt aus den Erörterungen über die synthetische Grammatik.

3.1 Von der Gabelentz unterscheidet zwei Typen von Grammatiken, entsprechend den beiden Richtungen, in denen man Grammatiken schreiben kann:
a) vom fertigen Satz, der gegebenen grammatischen Erscheinung, ausgehend und zu den einzelnen Teilen kommend: das analytische System; dies entspricht der Perspektive des Hörers;
b) das synthetische System, das der Redner-Perspektive entspricht: der Redende, und, entsprechend, der Grammatiker, der seine Grammatik in dieser Richtung erstellt, geht von einem auszudrückenden Gedanken aus, dessert sprachlichen Ausdruck er aus den in der entsprechenden Einzelsprache bereitgestellten Elementen zusarnmensetzen muß.

3.2 Um die Fragestellung der synthetischen Grammatik zu illustrieren, führt von der Gabelentz Beispiele aus mehreren Bereichen des Darzustellenden an, darunter auch folgende Analyse:

Als psychologisch im engeren Sinne möchte ich diejenigen grammatischen Formenmittel bezeichnen, in denen sich das seelische Verhältniss des Redenden zur Rede oder seine Absicht, auf den Angeredeten einzuwirken, kundgiebt. Entschiedenheit oder Unsicherheit des Ausspruches, Erstaunen, Freude, Schmerz oder Furcht und allerhand Neben- und Hintergedanken, die wir auf Augenblicke hinter den Coulissen hervorlugen lassen: sie alle, wenn sie an der grammatischen Formung der Rede Theil haben, sind psychologische Modalitäten der ersteren Art. Hier sprechen wir recht eigentlich uns selbst aus, hauchen dem objectiven Inhalte der Rede etwas von unserer Seele mit ein. Frage, Bitte, Befehl, Drohung dagegen gehören zur zweiten Act. Hier versetzen wir uns in die Seele des Anderen und bemessen den Ausdruck nach dem beabsichtigten Eindrucke. Rhetorisch ist Beides. Jene Ausströmungen der eigenen Seele sind es vielleicht ungewollt, aber dafür sind sie um so eindrucksvoller, und manche Sprachen, wie die altgriechische und die deutsche, gestatten ihnen einen weiten Spielraum.

Wie zart ihre Mittel sein können, dafür ein Beispiel. Der Leser höre den A zum B sagen: "Hast Du es auch gelesen? " Und dann höre er den C zum D sagen: "Hast Du es nur gelesen? " Beide Fragen geschahen genau in der gleichen Betonung, der Ton fiel auf gelesen. A und C wollen also wissen, ob B beziehungsweise D ein Buch oder sonstiges Schriftstück wirklich gelesen haben. Wäre es ihnen urn das völlige Durchlesen zu thun gewesen, so hätten sie den Ton auf 'hast' gelegt. Hätte A das Wort auch betont, so wäre der Sinn ähnlich gewesen, wie wenn er gefragt hätte: "Hast auch Du es gelesen?" Das heisst, er hätte an andere Leser gedacht. Hätte C das Wort nur betont, so hätte er daran gedacht, dass D wohl auch eine Abschrift entnommen oder Dritten Mitteilung gemacht haben könnte. Wie gesagt, nichts von Alledem. Und doch besagen die beiden Wörtchen jedem Verständigen, dass A bei seiner Frage einen ganz anderen Nebengedanken gehegt habe, als C. A hatte nämlich erwartet, dass B das Buch lesen sollte; vielleicht hatte er es ihm geliehen oder empfolilen. Und hätte B das Buch nicht gelesen, so hatte A den Vorwurf in Bereitschaft: Was hat mir nun das Ausleihen oder Empfehlen genützt? C dagegen hatte nicht erwartet, dass D das Buch gelesen habe. Nun gewimit er den Eindruck, als müsse das doch der Fall sein, und ist natürlich überrascht. Antwortet nun D verneinend, so darf auch C mit einem Vorwurfe erwidern. Der lautet aber: Warum stellst Du Dich denn so und versetzest mich in Irrthum?

Ich habe die Erklärung dieses Beispieles sehr breit ausgesponnen. Solche Dinge sind aber auch oft fein wie Spinneweben und so durchsichtig, dass man sie selbst kaum sieht. Gewiss kann der Sprachforscher seine Sinne gar nicht genug auf solche Beobachtungen schärfen, und insofern entwächst er sein Lebtag nicht der Schule der classischen Philologen, die hierin die wahrhaft classische ist. (Gabelentz, 1891, 1969: 95 f.)

3.3 Diese Analyse ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert; sie nimmt - das ist bei aller Kürze ersichtlich - Ergebnisse künftiger Forschung voraus, und sie zeigt in deren Darstellung Merkmale von Entdeckungs- und Beschreibungsverfahren, die sich erst später durchsetzen. So sieht Von der Gabelentz klar, daß das Deutsche bei einem Merkmal, das er zu den charakteristischsten zählt (siehe obiges Zitat) mit dem Altgriechischen eine auffallende Ähnlichkeit aufweist. Weiter geht er nicht, er zieht auch keine Folgerungen aus den getrennt stehenden Bemerkungen.

Sodann kennzeichnet er die abtönende Funktion der Partikeln (Füllwörter), ihre Funktion auf der "Intentionsebene" (Weydt 1969: 61 ff.), als eine Kundgabe seelischer Einstellung des Redenden zur Rede oder als Mittel einer Absicht "auf den Angeredeten einzuwirken".

3.4 An der Analyse von auch und nur sollen vier Punkte hervorgehoben werden:

3.4.1 Von der Gabelentz weist ausdrücklich auf die Rolle der Satzintonation hin; er gibt genau an, wo der Akzent liegen muß, damit der Leser die gemeinte mündliche Äußerung überhaupt identifizieren kann. Er beschreibt auch, in welcher Weise die Sätze anders verstanden werden müßten, wenn die Partikeln betont wären.

3.4.2 Zweitens löst Von der Gabelentz das Problem, abtönende Bedeutungen auszudrücken, mit einer später noch oft angewandten Methode: er stellt die Bedeutung der Partikeln und des Satzes, im dem sie stehen, an den möglichen Kontexten dieses Satzes dar. Dazu konstruiert er einen charakteristischen Dialog, in dem der betreffende Satz vorkommen kann und kennzeichnet die Erwartungen und Hintergrundsannahmen des Sprechers durch mögliche vorhergehende oder folgende Dialogteile. Nicht zu verwechseln mit Metaphern.

3.4.3 Drittens ist sein Vorgehen strukturell-oppositiv. Eine große Schwierigkeit bei der semantischen Analyse einer Partikel wie auch in Hast Du das auch gelesen? besteht darin, festzustellen, welche Merkmale der Redesituationen, in denen der Satz gesagt werden kann, dem Auftauchen von auch in dem Satz zuzuschreiben sind. Hier bedient sich Von der Gabelentz intuitiv der Opposition als heuristischen Verfahrens. Er bildet ein Minimalpaar: die verglichenen Sätze sind - bis auf die betreffenden Partikeln - gleich; auch der Satzakzent liegt auf der gleichen Stelle. Unterschiede, die nun auftreten, müssen auf unterschiedliche Funktionen der Partikeln zurückgehen. Dieses Verfahren ist genau das funktionell-strukturelle Verfahren der Kommutation, wie es z. B. in der Phonologie angewandt wird, um festzustellen, ob ein funktioneller Unterschied zwischen zwei Lauten besteht: man ersetzt auf einer der Ebenen (Inhtalts- oder Ausdrucksebene) in ansonsten identischen Kontexten ein Element des Minimalpaares durch das andere und beobachtet, ob diese Ersetzung eine Änderung auf der anderen Ebene bewirken kann. Ist das der Fall, so ist der Unterschied distinktiv. Auf diese Weise läßt sich nicht nur bestimmen, daß eine distinktive semantische Opposition vorliegt, sondern man hat auch einen Teil der Bedeutung bereits festgestellt. So ergibt das Beispiel von Von der Gabelentz, daß A eine positive Erwartung zum Frageinhalt hatte, C in seiner Frage dagegen eine negative.

3.4.4 Äußerst interessant ist, viertens, der Inhalt der Füllwörter Alysen selbst. Für den heutigen Sprecher des Deutschen ist die Beschreibung von auch zutreffend. Ich selbst bin mit meinem Buch - unabhängig von Von der Gabelentz - zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Dagegen läßt sich der zweite Teil, die Aussage über nur, heute gar nicht mehr nachvollziehen. Die Verständnislosigkeit beginnt damit, daß der Satz Hast Du es nur gelesen? mit betontem gelesen und unbetontem nur im heutigen Deutsch kaum möglich ist. Und auch, wenn man sich darüber hinwegsetzt, daß er nicht korrekt ist, so ist der semantische Gehalt, den Von der Gabelentz vorschlägt, für den heutigen Sprecher nicht mehr erkennbar; er läßt sich mit der heutigen Bedeutung (der heutigen Redebedeutungen) von nur nicht mehr in Einklang bringen.

Nun hat aber Von der Gabelentz in seiner Studie eine recht anschauliche Beschreibung gegeben, wie der Satz mit nur seinerzeit verstanden wurde. Die Kontexte und die abtönende Bedeutung sind so genau charakterisiert, daß man die interessante Frage stellen kann, ob es in der heutigen Deutschen Sprache eine Partikel gibt, die genau die Von der Gabelentz bezeichnete Funktion erfüllen würde. Dies scheint der Fall zu sein. Ob die Partikel, die heute genau anstelle von nur in der Rede des C stehen würde, wirklich alle Nuancen von nur hat, kann allerdings nicht entschieden werden, da nur eine Verwendung gekennzeichnet wurde. Aber es ist erkennbar, daß in diesem Satz Hast Du es ... gelesen? unter genau den geschilderten Zusatzbedingungen heute etwa stehen würde. Der modeme Satz: Hast Du es etwa gelesen? entspricht in beiden angegebenen Merkmalen der Von der Gabelentz angegebenen Bedeutung des nur-Satzes:
a) in der Sprecherwartung: der Sprecher des Satzes erwartet, daß Nein die richtige Antwort ist, er wäre über Ja erstaunt; und
b) in der Möglichkeit des späteren Vorwurfs: antwortet D mit Nein, so wäre genau die angegebene vorwurfsvolle Reaktion Warum stellst Du Dich denn so und versetzest mich in Irrthum? möglich.

3.5 Man kann also aufgrund der Gabelentz'schen Analyse konstatieren, daß ein Bedeutungswechsel bei nur stattgefundenhat. Es läßt sich sogar vermuten - und diese Vermutung könnte durch sorgfältige Überprüfung an Texten weiter verfolgt werden - , daß die nur-Bedeutung, als signifié, erhalten geblieben ist und daß lediglich ein Austausch der signifiants stattgefunden hat. Es würde sich - man müßte allerdings dazu die abtönende Bedeutung isoliert betrachten - ergeben, daß die Ersetzung im Sprachsystem eines Zeichens durch ein anderes nur auf der materiellen Ebene stattgefunden hätte: ein interessarrtes Beispiel für eine strukturell-diachronische Semantik (Coseriu, Eugenio (1964): "Pour une sémantique diachronique structurale", Travaux de linguistique et de littératur II, 1: 139-186) auf dem Gebiete der nicht lexikalischen Bedeutungen.

So eröffnen Gabelentzens als Illustration gedachten Bemerkungen die Aussicht auf eine noch zu leistende diachronische Untersuchung der deutschen Partikeln.


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Letztes Update: 18. März 2017