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Rhetorik: Die Kunst der Rede - Naumann

 

 

Stoffsammeln, Stoffabwerfen "... Wer reden lernen will, der soll sich Zeit gönnen, sowohl zum Stoffsammeln wie besonders zum Stoffabwerfen. Nicht die Menge des Stoffes bringt den Erfolg, sondern die Durcharbeitung. Es gibt Vielwisser, die gar keine Redner sind, weil sie vom Abwerfen keine Ahnung haben. Abgeworfen muß alles werden, was nicht in den übersichtlichen Gedankengang passt, mag es noch so nett sein. Abgeschnitten muß werden, was für die Hörenden zu schwer ist. Dabei darf man nicht gefühlvoll sein gegen seine eigenen Liebhabereien.

 

Publikum steht im Mittelpunkt Der Redner redet ja nicht für sich, sondern für andere. Er kann zuhause seinen eigenen unfertigen oder tiefgründigen Gedankengängen so viel Zeit gönnen als er will, vor der Versammlung hat er ihr zu dienen und muß ihre Sprache reden. ...

 

Stoffeinteilung Was aber ein Redner unter allen Umständen besitzen muß, ehe er den Mund auftut, ist die Stoffeinteilung. Alles andere kann während des Redens zufließen, die einteilende Logik aber muß er vorher erarbeitet haben. 

 

Vorher in das Sachgebiet eintauchen, nicht nur Worte machen über Dinge

Da jede Rede ihre eigene Aufgabe hat, so hat auch jede Vorbereitung ihre eigene Temperatur. Für viele juristische, volkswirtschaftliche, parlamentarische Reden genügt Stoffklarheit, Einteilung und Selbstbeschränkung. Aber auch in diesen Fällen soll der ganze Mensch sich vorher in das betreffende Sachgebiet eintauchen, damit er in dem zuhause ist, von dem er reden will. Je zarter nun aber die Aufgaben sind, desto mehr verlangen sie die besondere Denkweise ihres Gebietes. Hier liegt die geheime Kraft der Redekunst. Wer über künstlerische Dinge zu sprechen beabsichtigt, geht als ein künstlerisch gebundener Mensch in den Saal. Wer in der Kirche über Gott reden will, spricht vorher mit Gott. Wer Geschichte darstellen will, verliert die Gegenwart und erlebt das Gewesene. Kann einer das nicht, so macht er nur Worte über Dinge, spricht aber nicht aus ihnen heraus.

Man erfährt öfter, daß Männer und Frauen, die gar nicht gewöhnt sind, öffentlich zu reden, bei einer einmaligen Gelegenheit ganz vortrefflich sprechen und es viel besser machen als ein Berufsredner. Das ereignet sich meistens dann, wenn sie aus ihrer eigensten Welt heraus sich gleichsam ausgießen. Sollten sie es öfter tun müssen, so würden erst die Fragen der Redekunst an sie herantreten, denn dann erst müssen sie mit sich darüber ins Reine kommen, was sie gestern geredet haben und was sie morgen sagen wollen.

 

Wiederholung so gestalten als ob sie eine Erstgeburt wäre, am oft Gehörten Neues zeigen

Kunst ist es, die Wiederholung so zu gestalten, als ob sie eine Erstgeburt wäre. Kunst ist es, am oft Gehörten Neues zu zeigen, das Notwendige zum hundertsten Male so gut auszusprechen, daß es nicht müde macht.

 

Rede ist eine Zwiesprache

Die Rede ist eine Zwiesprache, bei der einer spricht und die Andren hörend mitreden. Wer dieses hörende Mitreden nicht begreift, ist nicht rednerisch veranlagt...

 

Rede ist Wechselrede

Man sagt, daß eine Versammlung Stimmung hat oder nicht, daß der Redner von ihr getragen wird, daß er ein Echo findet in den Herzen, daß sich unsichtbare Fäden knüpfen. Das sind alles nur Versuche, den Dialog, die Wechselrede, zwischen sprechenden Einzelmenschen und schweigender Masse zum Ausdruck zu bringen.

Nicht immer ist die Versammlung schweigend, es findet sich sogar oft, daß sie sehr lebhaft wird, sei es im Beifall, sei es im Widerspruch, sei es in beidem zugleich. Je weiter man in Deutschland nach Süden kommt, desto beweglicher sind die Gemüter, desto dramatischer können die Abende verlaufen. Damit ist aber nicht gesagt, daß die innere Anteilnahme dort größer ist. Unter dem Schweigen einer niederdeutschen Bauerngemeinde kann sehr viel Anteil verborgen liegen, und dieses soll der Redner fühlen. Er braucht die Zurufe nicht, wenn er seiner Sache gewachsen ist, und nicht selten führen Zurufe auf falsche Nebengeleise, da sie immer nur von zufälligen einzelnen stammen, der Redner aber eine innere Vorstellung von der ganzen Versammlung haben soll. Da kann man manchmal auch schlagfertig reagieren

Für wen redet man eigentlich? Man soll der Idee nach für alle Anwesenden reden und muß auch immer darauf bedacht sein, daß alle hören können; aber seelisch für alle in gleicher Weise zu reden, ist meist unmöglich, weil die Unterschiede zu groß sind. Da sitzen Leute vor uns, denen wir das Ganze in sechs und acht Sätzen würden sagen können, weil sie schon alle Vorkenntnisse mitbringen und nur wissen wollen, wie gerade dieser Redner die Sache anfangen wird. Und neben ihnen erwarten andere, daß in den leeren Acker ihres unbepflanzten Geistes die ersten Stecklinge eingesetzt werden. Da gibt es Hörer, die den Redner schon fast bis in seine Einzelgedanken hinein kennen, und andere, die ihn sich nur erst einmal ansehen wollen. Was soll er tun? Er dichtet sich in aller Eile einen Durchschnittshörer und spricht zu ihm, ist aber bereit, diesen gedachten Normalhörer zu verändern, sobald er merkt, daß er ihn sich falsch gedacht hat. ...

 

Dauernder Blickkontakt zum Publikum

Schon aus dem bisher Gesagten ergibt sich, welche Bedeutung für die Redner das Auge hat. Dem Kurzsichtigen fehlt ein wichtiges Mittel des Redens, nämlich die unmittelbare Aufnahmefähigkeit für die stille Sprache seiner Hörer. Und was bedeuten dem Redner die Augen der Versammelten!

In ihnen kann alles liegen von der reinen Hingabe an den Gedanken bis zur Gleichgültigkeit und Feindlichkeit. Der Redner sieht, wo Zweifel entstehen, wo Worte falsch verstanden werden oder wo Nebengedanken einsetzen. Er kann zwar nicht auf alles eingehen, was er sieht, aber er kennt die Lebendigkeit der Seelen etwa so wie der einsame Wanderer die Geräusche des Waldes versteht. Seine Sinne sind geschärft, und gleichsam im Fluge gleiten die Ahnungen und Wünsche der Versammelten um ihn herum. Er ist allein zwischen ihnen allen und lebt mit ihnen. Diese Aufnahmefähigkeit für Versammlungsregungen muß vorhanden sein, soll aber im Zügel gehalten werden, weil sonst ein Redner entsteht, der sich von den Hörern treiben und schieben läßt. 

 

Jede Versammlung ist ein neues Gebilde. Die Aufgabe ist eine Gemeinde zusammenzubauen

Fast nie kann der Redner sich seine Versammlung vorher genau vorstellen. Selbst der regelmäßige Redner am gleichen Orte, der Pfarrer und der Rechtsanwalt, auch der vortragende Lehrer, findet Tage mit hellem Wetter und solche mit Wolken. Wieviel mehr aber trifft das den Wanderredner. Ich fahre nach Frankfurt oder Hamburg und glaube dort bekannt zu sein, jedesmal aber ist die Versammlung ein neues Gebilde, wie es vorher und nachher nicht vorhanden war. Es entsteht in Kürze eine Gemeinschaft, oder sie entsteht auch nicht. Oder aber sie entsteht, das ist das Entscheidende für den inneren Erfolg der Rede. Diese Gemeinschaft aus unbekannten menschlichen Elementen zusammenzubauen, ist die Kunstaufgabe des Redners. Er bildet Gemeinde, und sei es nur für eine und eine halbe Stunde. ...

Manche zwar verdienen, erst einmal in die Schule geschickt zu werden! Damit meine ich nicht die Schwachbegabten, bei denen es schließlich gar nicht so viel ausmacht, ob sie noch etwas Politur erhalten oder nicht, sondern diejenigen der Hochbegabten, die sich selber beim Reden nicht vergessen können...; denn der Redner selber muß in seiner Sache untergehen, sonst redet die Sache nicht durch ihn.

 

Redestil ist etwas ganz persönlich anhaftendes - jeder hat seine eigene Art

Der Redestil des Menschen ist wie sein Schreibstil und wie seine Handschrift etwas ihm Anhaftendes. Jeder Mensch hat im Grunde seine eigene Art zu reden, nur findet längst nicht jeder die seinige, weil er mehr scheinen möchte als er ist, oder weil er schulmäßigen Vorbildern nachstrebt, oder weil er überhaupt ein zu geringes angeborenes Stilgefühl hat. Es geht in dieser Hinsicht dem Redner wie zahllosen Architekten, die deshalb nicht Gutes und Einfaches bauen, weil sie einen Traum haben, als sei die Peterskirche oder der Kölner Dom grade gut genug, um für ihr Gebilde den Hintergrund abzugeben.

 

der alte Redestil hat sich abgelebt

Was Bismarck im Großen konnte, kann jeder andere im Kleinen versuchen, wenn er nichts vortäuschen will, sondern eben nur sagen, was er denkt. Das ist u. U. grausam, wenn einer nichts denkt. Dann aber darf er ja den Mund halten! Die alte schulmäßige Redekunst half über diese Grausamkeit hinweg, indem sie gute Formen beibrachte, die auch ohne neuen, eigenen Inhalt wirken sollen. Das aber hat sich abgelebt. Der große angelernte Ton ist für uns ein unerträglicher Klang.

Wenn deshalb der Redner durch die Reihen der Versammelten schreitet, um zum Rednerpult zu gelangen, soll er vor allen Dingen nicht beabsichtigen, ein Fremder sein zu wollen, sondern Aussprecher von Anschauungen und Gedanken, die gesagt sein möchten.

 

 

keinen eigenen Stil suchen, keine Manier zurechtmachen

Es wächst beim Redner im Laufe der Jahre der eigene Redestil. Andere werden ihn kennen, er selbst aber soll ihn nicht suchen, denn ebensowenig wie man fremde Vorbilder künstlich nachahmen darf, ebensowenig soll man sich selbst eine eigene Manier zurechtmachen, etwa so wie ein Maler immer nur gelbe Herbstwälder malt, weil ihm einmal einer herrlich geglückt ist.

 

Ein Redner wächst aus seiner Zeit und seinen Aufgaben heraus

Es fällt kein Meister vom Himmel, d.h. er wächst aus der Erde heraus, aus seiner Zeit und seinen Aufgaben. Die Sache muß man haben, so folgen die Worte. ...

Ein junger Student saß eines Tages da drunten im Saale und sprach aus seiner versunkenen Seele heraus: "Ein einziges Mal in meinem Leben möchte ich so reden können!" - Das ist derselbe Zug, der junge Mädchen erfaßt, wenn ihnen die Schauspielkunst in erhabener Gestalt vor Augen tritt: ein einziges Mal! Nun liegt die Sache aber so, daß dieses einzige Mal keinem geschenkt wird, der nicht vorher sehr viele Male schon geredet hat. Es ist bei der Redekunst wie bei allen Künsten, daß, wer etwas Richtiges leisten will, sich viele Gelegenheiten dazu suchen muß. ... Dann erscheint mitten im starken Getriebe dieses von der Jugend gewünschte einzige Mal irgendwann von selbst.

 

die Kunst des Rede halten 's will gelernt werden!

Manche denken, daß reden sehr leicht sei. Sie sollen es nur probieren! Dann werden sie finden, daß die Anfänge sozusagen von selber gehen, daß aber die weitere Pflege der Kunst ein gutes Teil von Wille und Mühe verlangt. Spazierengehen kann jeder, aber auf hohe Berge zu steigen, will doch gelernt werden..."

 


(Auszüge aus: Friedrich Naumann: "Die Kunst der Rede" in "Die Hilfe", Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst, Berlin 1914)

 

 

Letztes Update: 22. Oktober 2020